Und was war "davor"?

  • Ich habe in letzter Zeit wieder etwas intensiver Ahnenforschung betrieben und bin in vielen Linien bis ca. 1610, in weiteren bis ca. 1690 zurück gekommen. Sicher ist für mich noch nicht "das Ende der Fahnenstange" erreicht. Es gibt noch einige weitere Linien in denen ich suchen und ähnlich weit zurück kommen werde, für andere Linien werde ich wohl die Mormonen bemühen, da es (noch?) keine Online-OFBs von dieser Gegend gibt.


    Aber trotz aller Erfolge beschäftigt mich eine Frage: Was war VOR den Ortsfamlienbüchern/Kirchenbüchern etc.? Dass "wir Deutschen" den nahezu zwanghaften Drang haben, alles aufzuschreiben und zu dokumentieren, ist ja nicht erst seit dem späten 16. oder frühen 17. Jahrhundert so, oder? Wurden zuvor keine Aufzeichnungen über Geburten, Todesfälle und Taufen von Nichtadeligen geführt oder sind die nur verschwunden? Und wenn doch, wo kann man so etwas noch finden? Ich habe mich mal schlau gemacht - die ev. Kirche in unserem Städtchen wurde bereits im frühen 12.Jhd (ursprünglich als katholische Kirche natürlich) gebaut. Wurde zu der Zeit noch nichts aufgeschrieben?


    Vielen Dank vorab für eure Antworten...

  • Ich glaube, die frühesten Kirchenbücher sind etwa um 1540 begonnen worden - aber nur in wenigen Städten. Bei den meisten Vorfahren muss man froh sein, überhaupt bis zum 30jährigen Krieg zurück zu kommen. Natürlich wurde überall getauft, geheiratet und gestorben, aber das wurde eben nicht aufgeschrieben.
    Was die weitere Forschung betrifft, so hängt das von den einzelnen Familien ab. Wenn du vor allem Tglöhner und Landarbeiter hast, gibt es wahrscheinlichkeine weiteren Quellen, bei Handwerkern, Kaufleuten oder Bauern sind die Chancen ganz gut, noch weiter zu kommen, denn die zahlten Steuern, kauften oder verkauften Land oder Häuser, machten vielleicht Stiftungen oder waren im Stadtrat vertreten, manchmal sind auch Testamente erhalten. Zu eigenhörigen Bauern gibt es oft noch Hofakten aus dem Besitz der Grundeigentümer.
    Diese Quellen befinden sich in verschiedenen Archiven. es ist nicht immer einfach, sie aufzuspüren und ich gestehe, dass ich mich mit dem Lesen auch oft schwertue, da es sich ja nicht um kurze Einträge im Kirchenbuch, sondern oft um lange Urkunden in einer Kanzleisprache handelt, in die man sich auch erst mal einlesen muss. Dafür geben die Inhalte zwar meist keine präzisen Geburts- oder Sterbedaten, aber dafür eine Menge Einblicke in das Leben dieser Vorfahren. Wer Glück hat, kann mit solchen Akten sehr viel weiter kommen.

  • Hallo Sheffield,


    die katholischen Kirchbücher beruhen zumeist auf der Regelung, die das Trienter Konzil 1563 mit der Einführung eines Tauf- und eines Ehebuches in jeder Pfarrei schuf. Die Vorschriften über das Sterbergister sind im Rituale Romanum des Papstes Paul V. von 1614 festgeschriben.
    Die evangelischen Kirchenbücher in Deutschland wurden überwiegend durch die landesherrlichen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts geschaffen.
    Verluste dieser ältesten Kirchbücher wurden durch Brände, Überschwemmungen, individuelle Unachtsamkeiten und vor allem durch den 30jährigen Krieg (1618-1648) samt Nachkreigswirren verursacht.
    Spezielle Kirchenbücher gab es z.B. für den Soldatenstand, den Hofstaat in fürstlichen Residenzen, Angehörige von adeligen Patronatsfamilien und auch von Universitätsgemeinden (z.B. Erlangen).
    Noch ältere Quellen können z.B. sein: Militärquellen, Gerichtliche Urkunden und Akten einschließlich Grundbuch-Vorläufern, Finanz- und Wirtschaftquellen (z.B. Steuerlisten, Protokolle von Zunft-Sitzungen) , Personenverzeichnisse und Selbstzeugnisse (z.B. Orts-Chroniken, Gutshof-Chroniken).


    Gruß
    Detlef

  • Hallo Sheffield, liest Du noch mit?


    Es gibt noch Quellen vor den Eintragungen in Kirchenbüchern.


    So habe ich z.B. die Kopie einer Hofübergabe von 1614. Darin sind neben den Brautleuten auch die Namen des Vaters, der den Hof übergibt und der Vater der Braut. Interessant sind auch die Angaben zu der Mitgift und die Abgaben, die der Sohn künftig an den Vater leisten muss. Rotraud hat Recht, mit dieser Kanzleisprache muss man erstmal klarkommen.


    Dann gibt es noch andere Quellen, die Detlef genannt hat: Ortschroniken, mit den Namen der Einwohner, Erb- und Namensregister, die Quellenkartei der Uni Kiel hat Gerichts- und Polizeiprotokolle auch aus den Jahren vor den Kircheneintragungen.


    Zwei Quellen sind hier noch gar nicht genannt worden; Das Begräbnisregister, in denen eingetragen wurde, welche Familien eine gemeinsame Grabstätte hatten und wo sie gelegen war. Dann gibt es in den Kirchenchroniken noch die Urkunden über sogenannte Geschlechter- bzw. Kirchenstühle, die bestimmten Familien beim Gottedienst zustanden.


    Viele Grüße, Ursula

    Fünf sind geladen, zehn sind gekommen. Ich gieß Wasser zur Suppe und heiß alle willkommen.


    Viele Grüße, Ursula

  • Hallo zusammen
    Ich habe sehr "neidvoll"die Beiträge gelesen.Ich muss sagen,dass sie in den österreichischen Kronländern sehr faul waren.Mit dem Jahr 1600 von unserem Kaiser eine Verordnung erlassen,dass die einzelnen Kirchen verpflichtet waren Geburten ,Taufen,Hochzeiten und Sterbefälle in entsprechenden Büchern aufzuzeichnen.Leider wurde dies nur sehr schleppend gemacht.In Villach wo ich wohne war die Kirche St.Martin die dies tatsächlich ab 1600 durchführte.Die Stadthauptkirche St.Jakob erst ab 1650 und die Kirche St.Nikolai erst ab 1675.
    Auf dem "Lande"wo die Adeligen ihre Landbesitze hatten wurde nur bei den einzelnen Bauern(sie waren ja Leibeigene) sogenannte Ehrungsprotokolle geführt.Hier wurde eingetragen wer die Hube(Hof)übernommen hat ,wie der alte Bauer mit seiner Frau hieß,woher die Frau ursprünglich kam und alle Kinder die die Bäuerin geboren hatte.Bei den Mädchen wurde noch dazu eingetragen wen sie geheiratet hatten und wohin sie dann verzogen sind.Der junge Bauer der den Hof übernommen hatte musste auch noch angeben wieviel Leinen,Geschirr und Geld er mitübernommen hatte denn dafür musste er der Grundherrschaft Steuern bezahlen.Diese Ehrungsprozokolle wurden ab 1500 geführt. In der Stadt gab es auch Jahrbücher wo die" Bürger" verzeichnet waren.Bei den Bürgern handelte es sich um Kaufleute und Handwerker.Tagelöhner und das normale Gesinde das bei irgendwelchen adeligen in der Stadt wohnte und arbeitete war nirgends verzeichnet.
    Ich habe einmal in einer alten Kirche in Italien eine Liste aller Pfarrer die in dieser Kirche tätig waren ab 1000 n.Chr.an der Kirchenwand hängen gesehen.Würde ja ganz toll sein bis in diese Zeit zurückzukommen.
    Liebe Grüße
    Franz Josef

  • Hallo!
    Ich kann mich nicht beklagen. Immerhin bin ich in Tirol bis 1460 zurückgekommen durch Matriken, Verfachbüchern und die Urkunden des Trautson-Auersperg-Archivs. Damit bin ich sehr zufrieden.
    LG Uschi

  • Mich bewegt diese Frage nach dem "was war davor?" auch immer wieder mal. klar - vor den Kirchenbüchern kann man auch noch Daten finden - Friedhöfe und Epitaphe oder Grabplatten in Kirchen sind ja auch nicht zu verachten. Aber ich finds merkwürdig - der Mensch macht solange es ihn gibt so ein Gewese um sich und seine wenigen Jahre - da wundert es, dass er sich um das "Bleiben" in Namen und Daten erst so spät gekümmert hat. Und das auch erst auf Anordnung von oben. Und es waren ja nicht nur die armen Leute, die keine Möglichkeit hatten - auch die reichen waren ja nicht besser - ich denke da an die Gruft im Berliner Dom - so viele Kindersärge ohne Namen, oder die nicht überlieferten Namen so mancher Kaiser und Könige. Widerspricht sich ja irgendwie - auf der einen Seite all das Aufhebens und auf der andern Seite scheint der Mensch egal zu sein.
    Und so fort...kommt man eh nicht mit zu Ende...
    Grüße
    Harald

  • für andere Linien werde ich wohl die Mormonen bemühen, da es (noch?) keine Online-OFBs von dieser Gegend gibt.


    Liebe Stadt in England.


    ich hoffe für Dich, dass Du mit den Mormonen zufriedenstellende Ergebnisse bekommst. Frage mich allerdings, wie die an Daten aus der Zeit kommen sollen, aus der es keine Kirchenbücher gibt.


    Die OFB (es gibt nicht nur Online-OFB, die Mehrzahl ist gedruckt) sehe ich als eine große Hilfe an, mit der ich mir die Forschung erleichtern kann. Aber wenn irgend möglich überprüfe die vorgelegten Daten! Ich sitze gerade vor einer riesigen Forschung, in der ein Kind 16 Jahre nach dem Tod eines Mannes von diesem adoptiert wird, bei einem anderen Kind steht ein Geburtsdatum - aber an dem Tag hat der gute Lorenz geheiratet. Und ein drittes Kind heiratet die Tochter des Chr. Schmidt - im KB steht allerdings die nachgelassene Witwe des Chr. Schmidt. Als Hilfe sehe ich die Forschun aber dennoch an.


    Nie die Hoffnung aufgeben!


    Gruß und Forscherglück (das gelegentlich bessere Ergebisse liefert als der Fleiß)


    Herbert

  • Hallo Harald,


    die Frage mit dem "Schriftlichen Festhalten" vor 1600 beschäftigt mich auch immer mal wieder, wenn man bedenkt, dass Luther 1522 die Bibel ins Deutsche übersetzte und wir im 15 Jh. den Buchdruck hatten, könnte man annehmen, das die Kirchen bereits da schon Familienereignisse festgehalten hatten. Aber Tatsache ist wohl, dass beim normalen Fußvolk es nicht so wichtig war, die konnten ja leider noch nicht einmal alle lesen. Insofern hat auch niemand wirklich Wert darauf gelegt, Familienereignisse zu verschriftlichen. Die "lesefähigen" Adligen und Kleriker waren da eindeutig im Vorteil. Ich glaube, es wurde nichts aufgeschrieben, weil der Bedarf beim "Normalvolk" nicht da war. Verkäufe von Land, z.B. dagegen waren natürlich auch dem Klerus/Adel wichtig, allein schon aufgrund der Gerichtsbarkeit. Man kann lange darüber nachdenken.

  • Hallo allerseits,


    dass es nur so wenige frühe Akten gibt, in denen einfache Leute vorkommen, hat wahrscheinlich eine ganze Reihe von Gründen.
    1. den Verlust vieler Dokumente durch falsche Lagerung, die vielen Kriege etc.,
    2. die Tatsache, dass bis zum Spätmittelalter auch viele Adelige und Fürsten nicht lesen und schreiben konnten,
    3. der früher hohe Aufwand und entsprechende Preis in der Papier- und Tintenherstellung (da lohnte es sich kaum, etwas so "alltägliches" aufzuschreiben, wie Geburt, Tod und Heirat von Personen, und seien es auch Adelige - sofern sie nicht von überragender Bedeutung waren.
    4. die im Mittelalter übliche Art der Rechtsprechung, Regierung und Besteuerung (nämlich auf der Basis direkter, persönlicher Beziehungen).


    Wohzu hätte man früher den Aufwand treiben sollen, Dinge aufzuschreiben, wenn es so teuer war, eh kaum jemand lesen konnte und es für die wirklich wichtigen Vorgänge Zeugen gab, die dazu etwas aussagen konnten?


    Übrigens habe ich mal - ich weiß leider nicht mehr, aus welcher Quelle, aber nach meiner Erinnerung als Zitat aus einem Text aus dem 15. Jahrhundert - eine einleuchtende Begründung dafür gefunden, weshalb die wenigsten Adeligen lesen und schreiben konnten: "Als Ritter muss ich kämpfen können - und was nützen mir Kenntnisse im Lesen und Schreiben, wenn ich schlechter kämpfe, als mein Gegner? Jede Stunde, die meine Söhne mit lesen und schreiben verbringen würden, wäre eine Stunde, in der sie nicht kämpfen lernen: wenn die Söhne meiner Feinde das Kämpfen üben, meine eigenen Söhne aber dafür Lesen und Schreiben, werden sie automatisch schlechtere Kämpfer werden, als die Söhne meiner Feinde! Die Arbeit des Ritters ist der Kampf - für das Lesen und Schreiben haben wir unsere Pfaffen und Schreiber!"


    Un so schöner ist es, wenn man teilweise dann doch mal in einer alten Lehensurkunde - ich hatte das Glück mal bei einem Original aus der Zeit um 1435 - einmal das Lehen selbst in schriftlicher Form findet und dann auch noch die zugehörigen Bauern mit verzeichnet sind!
    Aber das Glück hat man leider nur in seltenen Ausnahmefällen (von meinen eigenen adeligen Vorfahren hat sich vor 1491 noch nicht einmal ein Hinweis auf ihre Lehen in irgendwelchen Akten erhalten)...


    Grüße aus Hannover


    Giacomo-Marco

    IRGENDWIE sind wir doch ALLE miteinander verwandt... ;)

  • Moin!


    Zu diesem unerschöpflichen Thema ist von den "Vorrednern" schon viel Richtiges geschrieben worden. Ich möchte nur mal ein paar Aspekte einbringen:


    1. Einer der Hauptgründe für das Nichtvorhandensein bzw. geringe Vorhandensein von schriftlichen Unterlagen aus der Zeit vor dem 30jährigen Krieg, die für die Familienforschung interessant sind, liegt m.E. in der äußerst schwach entwickelten Alphabetisierung. Lesen und schreiben lernen kostete schlicht Geld. Und diente im Regelfall nicht dem Überleben. Es hatte für die überwiegende Mehrheit der damaligen Bevölkerung keine Bedeutung.
    2. Ein nicht gerade geringer Teil von Akten, Akziselisten usw. usw. sind schlicht in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges untergegangen.
    3. Seit dem Hochmittelalter gab es mehrere Epidemien (Pest) die durch Europa rollten, und grosse Teile der damaligen Bevölkerung ausrotteten, zeitlich teilweise danach siehe Punkt 2. Einhergehend mit einer Entkräftung und Unterernährung der Masse der Bevölkerung. Fazit: Die Menschen hatten schlicht etwas anderes zu tun, als Geburten, Heiraten und Todesfälle aufzuschreiben. Zumal es eine Verwaltung im heutigen Sinne einfach nicht gab.


    Und 4. Warum sich darüber aufregen? Unser Hobby, unsere Leidenschaft ist doch keine Jagd, nach auch noch dem letzten Vorfahren! Familienforschung bietet doch so unendlich viel mehr spannende und aufregende Aspekte: Wer hat wo gewohnt, wie hießen Nachbarn? Wie haben sich Berufe entwickelt? Wie sah die Umgebung meiner Vorfahren aus; also die örtliche (dörfliche) Geschichte? Um diese ganzen (für mich!) hochspannenden Fragen (vor allem auch noch die, die ich jetzt hier nicht angeführt habe) zu beantworten, müsste ich sehr viel länger leben, als ich vermutlich auf diesem Globus rumlatschen werde. Also lasst uns nicht an unseren Toten Punkten verzweifeln, sondern all die anderen Aspekte unseres ach so aufregenden Hobbys "beackern".


    In diesem Sinne, allen ein schönes Wochenende!


    Viele Grüße


    Frank