Gesellschaftliche Situation lediger Mütter Anfang des 19. Jahrhunderts

  • Hallo,


    unter meinen Vorfahren befinden sich auch nicht ehelich geborene Kinder. Mich interessiert, wie die gesellschaftliche Situation von ledigen Müttern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewesen ist. Konnten ledige schwangere Frauen ihr "normales" Leben im Dorf weiter leben ? Gab es staatlicherseits bzw. von seiten der Kirche Rektionen ? Hat die Dorfgemeinschaft es nicht ehelich geborenen Kindern spüren lassen, dass sie nicht aus einer Ehe stammten ? Machte es einen Unterschied für Mutter und KInd, ob der Vater unbekannt blieb oder ob er sich zu der Beziehung bzw. zu dem Kind
    bekannte ? Hatte die Mutter das Sorgerecht ? Gab es regionale bzw. konfessionelle Unterschiede bei den Reaktionen (meine Vorfahren stammen aus Ostthüringen und waren somit Ev.-Luth.) ?
    Ich freue mich auf jede Antwort.
    Viele Grüße
    Jürgen

  • Hallo Jürgen,


    es gibt die wunderbare Editionseihe des Böhlau-Verlages "Damit es nicht verloren geht". Diese ist aus einer Initiative des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien entstanden, Lebensgeschichten von alten Menschen zu sammeln. Vieles davon bezieht sich natürlich auf Österreich, aber... authentischer geht es nicht. Blätter einfach mal durch die verlinkte Webseite.


    Zu dem von Dir angesprochenen Themengebiet vielleicht speziell: Band 53 "Als lediges Kind geboren..." und Band 59 "Ledige Mütter erzählen".

  • Ich denke, dass hängt immer vom sozialen Status der Großeltern ab.


    In meiner Ahnenreihe gibt es den Fall, dass ein Sohn unehelich geboren und dessen Mutter nicht vom Erzeuger geehelicht wird. Sie wird dann an einen älteren Bauern ohne Kinder verheiratet. In dieser Ehe werden keine weiteren Kinder geboren und so wird der uneheliche Sohn zum Hoferben seines Stiefvaters.


    Ein weiteres Schicksal: Frau lebt von Ehemann getrennt, ist aber nicht geschieden. Sie lebt bei dem Erben eines Schulzen und Kirchenvorstehers. In der neuen Beziehung werden mehrere Kinder geboren. Ein Sohn heiratet unter dem Mädchennamen seiner Mutter, muss dann aber den Ehenamen der Mutter annehmen.


    Mir fiel auf, dass in einigen Kirchenbüchern eher wenig Aufhebens gemacht wird- ist unter den Umständen geboren und gut ist. In anderen wiederum wird ganz klar getrennt bis hin zu einem eigenen Register und der "Berufsbezeichung" "Lose Person" für die Mutter.


    Gertrud

  • Hallo Jürgen,


    dann erzähl ich Dir etwas aus "eigener" Erfahrung:


    Mein Opa wurde unehelich 1907 geboren. Damals waren Mutter und Kind allgemein geächtet: sie war einmal nicht verheiratet und dann noch ein Kind aus dieser Affäre. Er wurde vor einem Kloster ausgesetzt; die bekamen aber raus, woher er kam und schickten ihn mit ca. 6 Jahren auf den Hof des Großvaters. Der jedoch schickte ihn mit 12 Jahren weg, weil er alt genug ist, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen.


    In der heutigen Zeit würde man sagen, was das Kind denn dafür könne - obwohl, manchmal ist es bei einigen noch so. Da leiden Kinder unter dem Fehltritt ihrer Mutter.


    Trotz der harten Erfahrungen wurde er ein liebevoller Vater und für mich Opa. Für seine Frau (siehe Avatar) ist es die 2. Ehe und seine erste Tochter ... sie war schon unterwegs, bevor sie heirateten. ;) Aber war bei seinen Kindern sehr pingelig über die moralischen Wertvorstellungen. Meine Ma hat mal erzählt, als sie noch verlobt war und mit meinem Pa händchenhielt, kam ein Räusper von ihm mit dem Hinweis, dass sie noch nicht verheiratet sind. :D


    Also: für uneheliche Kinder und deren Mütter war es sehr hart und hatten kein leichtes Leben. Wenn eine Glück hatte, fand sie noch einen Mann und das Beste natürlich für das oder die unehelichen Kinder, wenn sie adoptiert wurden und so den Namen des Stiefvaters trugen. Und am besten, an einem neuen Ort ein Leben beginnen, wo sie niemand kennt.


    LG, Doschek

  • Da leiden Kinder unter dem Fehltritt ihrer Mutter.

    Hallo und guten Morgen,


    alleine eine solche wertende Aussage, die hier bestimmt nicht böse gemeint war, zeigt doch, wie tief da gewisse Moralvorstellungen in unserer Gesellschaft verankert sind 8-)


    Meine väterliche Großmutter, Jahrgang 1920, hat mir erst um 1995 bei einem Gespräch im Zuge der Ahnenforschung unter Tränen "gestanden", daß sie unehelich geboren war. Das wußten nicht einmal ihre Kinder bis dato. Sie war in den 1920ern vom neuen Lebensgefährten der Mutter adoptiert worden, dieser galt der Familie gegenüber immer als der Vater. Dieses Geheimnis hatte sie ein lebenlang belastet, war für sie ein Schandfleck auf ihrer Seele. Erst als ich nach ihren vermeintlichen Großeltern fragte, brach alles aus ihr heraus. Ich war geschockt, nicht über diese Tatsache, sondern wie belastend so etwas für die Menschen bis in unsere ach so moderne Zeit hinein sein kann...


    Zur eigentlichen Frage kann ich mitteilen, das meine Großmutter und ihre Mutter in den 1920ern quer durch Deutschland reisten, um schließlich in der Anonymität einer Großstadt ein kleinbürgerliches Leben zu führen.


    Grüße


    Lothar

  • Bei der Bearbeitung der Standesamtsunterlagen meines Heimatortes habe ich gefunden, dass zwischen 1875 und 1900 die Überlebenschancen unehelicher Kinder möglicherweise noch schlechter waren als die anderer Kinder. Die meisten nicht-ehelichen Kinder, die ich erfasst habe, starben im 1.Lebensjahr, wobei die Gesamtzahl allerdings zu gering ist, um gültige Aussagen zu machen.
    Tzotzdem denke ich, dass Zusammenhänge bestanden. Die unverheirateten Mütter mussten recht bald nach der Geburt wieder arbeiten. Wenn sie ihr Kind selbst versorgten, war ein regelmäßiges Stillen wahrscheinlich schwierig, wenn sie es an die Großeltern oder fremde Personen abgaben, war es gar nicht möglich. Es gab ja keine fertige Babynahrung, der Ersatz konnte zu schweren Durchfällen führen, an denen ein Kind in den ersten Monaten schnell sterben kann.
    Ich unterstelle in einer Kleinstadt wie unserer nicht, dass Kinder mit Absicht schlecht versorgt wurden, es war eine Zeit, in der die Kindersterblichkeit an sich sehr hoch war, bei den armen Leuten aber noch höher als bei besser gestellten.
    In meiner eigenen Familie wäre mein Urururgroßvater um 1818 vermutlich unehelich geboren worden, wenn seine Mutter (Kammerzofe) nicht noch rechtzeitig mit einem 20 Jahre älteren Kutscher verheiratet worden wäre, von dem angezweifelt wird, dass er der Vater meines Vorfahren war. Sowas war sicher eine häufige Strategie um uneheliche Geburten zu vermeiden, zeigt aber auch, dass auf unehelichen Geburten ein Makel lag.

  • Zitat

    Da leiden Kinder unter dem Fehltritt ihrer Mutter.


    Ich wollte nur die anderen Worte umgehen, die es so gibt. Warum sie dem Charme ihres Chefs erlegen ist, kann man ja nicht sagen. Er war unglücklich verheiratet. Aber - was natürlich damals "normal" war, wurde sie als Hure, Nutte etc. beschimpft. Und hat den "Bastard" zu seinem Wohl vor dem Kloster ausgesetzt und wohl in der Verwandtschaft erzählt, dass sie nach Amerika zu ihren Brüdern auswandert - um ein neues zu Leben zu beginnen. Ich konnte sie aber auf keiner der Passagierlisten entdecken - zum Entsetzen der Familie inkl. meiner Mutter. Was natürlich auch eine logische Erklärung war, warum sie bei ihnen nie ankam. Es wurde aber von Piraterie ausgegangen


    Zitat

    Dieses Geheimnis hatte sie ein lebenlang belastet, war für sie ein Schandfleck auf ihrer Seele.


    Und das, wo sie erst recht nichts dafür kann.


    Übrigens, viele Vergewaltigungsopfer und hervorgegangenes Kind wurden genauso behandelt. Missbrauchsopfer schwiegen deswegen auch, weil das doch der Vater oder Onkel nicht machen würde. Ging ein Inzestkind daraus hervor, wurde es oft als Bastard bezeichnet und die junge Mutter ebenso als Hure geächtet.


    Drum muss ich bei jeder Zeitungsanzeige schlucken, wenn "illigitim" hinter dem Namen steht.


    LG, Doschek

  • Ich hab ja schon häufiger geschrieben dass es in meiner Familie sehr viele uneheliche Geburten gab. Das macht die Ahnenforschung schwieriger ;)


    Ich bin selbst unehelich, genau wie meine Großmutter und meine Urgroßmutter. Ich glaube, es kam auch immer auf das Familienumfeld an wie damit umgegangen wurde. Bei meiner Geburt war das zwar doof aber meine Mutter hat die Unterstützung ihrer Familie gehabt und irgendwie war das kein Thema für mich. Bei meiner Großmutter war das viel schlimmer vor allem weil ihre Mutter so schamhaft war. Meine Urgroßmutter hat nie darüber gesprochen bis ich sie einem "Peinlichen Verhör" unterzogen habe. Da hat sie einen Namen genannt und dass der Mann im 1 WK getötet wurde. Sie hat auch einen Namen genannt aber sie könnte gelogen haben. Sie hat behauptet dass sie sogar mit ihm zusammen gelebt hat (1914). Ihre Mutter war ganz besonders, weil die damit ganz offen umgegangen ist und den Mann nicht heiraten wollte.
    Meine Uroma ist 1893 unehelich geboren. Ihre Mutter wollte den Vater jedoch auf keinen Fall heiraten und hat ihm damit wohl das Herz gebrochen ;( Sie liess das Kind bei ihrer Mutter und erkundete weiter die Welt. Auch davor gab es uneheliche Geburten. das war zum Teil auch völlig normal. Oft heiratete das Paar dann wenige Jahre später und die Kinder wurden ehelich. Problem war in den meissten Fällen wohl das Geld welches man für eine Eheschließung benötigte.


    In allen Fällen haben die unehelichen Mütter irgendwann den Mann ihrer Wahl geheiratet und ein langes glückliches Leben geführt. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass es vor allem in kleinen Gemeinden großen Druck auf die Mütter gab und so machne mag, vor allem wenn es keine Möglichkeit des Gelderwerbs gab, ins Wasser gegangen sein.
    Man sollte aber immer im Hinterkopf haben, dass es nicht nur den unehelich geborenen so ging sondern dass auch eheliche Waisen oft schlecht behandelt wurden. Die Kinder wurden oft in der Familie aufgeteilt und waren nur unnütze Esser. Aber auch da fand sich immer mal wieder ein (kinderloses?) Paar welches solche Kinder herzlich aufnahm.

  • Hallo,


    möchte mich für Eure, zum Teil sehr persönlichen Beiträge bedanken. Ich selbst habe leider keine Gespräche mit meinen Großeltern führen können, das ich noch zu jung war als sie gestorben sind, bzw. sie zum Zeitpunkt meiner Geburt nicht mehr lebten.
    Aus den Taufeinträgen zu nicht ehelichen Geburten die mir zu meiner Familie bisher vorliegen, wurde der Eintrag zum Vater einfach freigelassen bzw. in einem Fall wird sogar der nicht eheliche Vater des Kindes genannt. Irgendwelche Bemerkungen bei nicht ehelichen Geburten wurden nicht gemacht. Die Frauen die nicht verheiratet Mütter wurden, sind allerding aus ihrem Geburtsort weggezogen (wenn auch nicht sehr weit).
    Mir ist dieses Thema erst vor kurzem wieder untergekommen, als ich in einer Reportage hörte, dass Willy Brandt seitens des politischen Gegners, seine uneheliche Geburt vorgehalten wurde (1970er Jahre !!).
    Nochmals Danke und
    viele Grüße
    Jürgen

  • Hallo Jürgen,
    das mit W Brandt stimmt so nicht. Es wurde ihm vorgeworfen, daß er 1945 unter dem Namen Brandt nach Deutschland zurückkam, obwohl er eigentlich Frahme hieß. Das haben seine politischen Freunde dann so gedreht, als ob ihm seine uneheliche Geburt zum Vorwurf gemacht würde.
    Freundliche Grüße, Wilfried