Arbeitszeugnisse 30er Jahre

  • Hallo in die Runde,
    weiß jemand, ob bei der Ausstellung von Arbeitszeugnisse in früheren Zeiten - hier aktuell 1938 - schon ähnliche Regeln bezügl. gewisser Formulierungen angewendet wurden wie heute? Also z.B. "war stets bemüht dieses oder jenes auszuführen" = hat es niemals auf die Reihe gebracht.


    Im vorliegenden Fall war der Mitarbeiter bis 1938 (30 Jahre alt) bei der Landesbauernschaft Hessen-Nassau als Wirtschaftsberater und Fachlehrer an der Landwirtschaftsschule angestellt.
    Für beide Arbeitsfelder liegen getrennte Tätigkeitsbeschreibungen vor. Die Bewertung seiner Arbeit ist zusammengefaßt und nicht für die einzelnen Tätigkeiten spezifiziert.
    X hat sich während seiner hiesigen Tätigkeit als ein ehrlicher, fleissiger, zuverlässiger und vertrauenswürdiger Mitarbeiter gezeigt.
    -> (wenn 100%ig wäre, würde heute noch "stets") dabei stehen


    und hat die ihm übertragenen Aufgaben zur vollen Zufriedenheit erledigt.
    -> (ist ja noch ok, aber gab es damals schon die Abstufung vollste, volle bzw. Zufriedenheit ohne was vorndran?)


    Seine Dienstliche Führung war gut, über sein ausserdienstliches Verhalten ist Nachteiliges nicht bekannt geworden.
    -> "nichts bekannt geworden", war das Standard oder hat man das bei gegebenem Anlaß auch dezidiert positiv oder negativ formuliert. Dann wäre vorliegende Formulierung wie ein "teilgenommen" (wir nannten das an der Uni "Sitzschein") oder "bestanden" ohne Bewertung, oder aber als "grade noch so eben" zu verstehen.


    Er verläßt die hiesige Stelle, um an einer anerkannten Landwirschafsschule den Vorbereitungsdienst für Landwirtschaftslehrer abzuleisten.
    Im Aufgrage
    Unterschrift





    Das ist das ganze Zeugnis. Ohne Wünsche für die weitere berufliche Laufbahn. Ohne Prognose, daß er er auf die Anforderungen vorbereitet ist.
    Ich habe wirklich den ganzen Bewertungsteil abgeschrieben.
    Also wenn mir jemand so ein Zeugnis ausstellen würde, stände ich am nächsten Tag auf der Matte.


    Was meint ihr dazu?
    Viele Grüße
    Gisela
    -

    Ein Jegliches Ding hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde
    Derzeitige Lieblingsbaustellen: GRUNER u. LINCKE, Sachsen, ab 1849 auch Schweiz. WURMSER von Schaffoltzheim, Bormio, Schweiz, Elsaß, Heidelberg. STREICHER, Ulm, 16. Jhdt. (Schwenckfelder). WERNBORNER, Hessen u.a.

    Einmal editiert, zuletzt von Gisela ()

  • Hallo Gisela,


    ich habe drei Zeugnisse meiner Tante. Sie war Hausgehilfin.
    1936 heißt es …sie war ehrlich, fleißig und in jeder Weise gefällig und hat ihre Arbeit zu meiner Zufriedenheit ausgeführt.
    1938 – 1941 … sie war ein ruhiges, nettes und solides Mädchen, sie ist ehrlich und immer fleißig. Ich wünsche für ihr ferneres Leben ein gutes Wohlergehen.
    1944 – 1946 … sämtliche ihr übertragene Arbeiten zufriedenstellend erledigt und zu Klagen keinen Anlass gegeben.


    Die verschlüsselten Formulierungen wie in den heutigen Arbeitszeugnissen hat es wohl damals noch nicht gegeben. Ich weiß auch nicht, wann der Code aufgekommen ist.


    Viele Grüße, Ursula

    Fünf sind geladen, zehn sind gekommen. Ich gieß Wasser zur Suppe und heiß alle willkommen.


    Viele Grüße, Ursula

  • Hallo Gisela,


    ich habe von meinem Großvater Arbeitszeugnisse aus dem Zeitraum 1908 - 1944.
    Bis Ende der 1920er Jahre sind das fast immer nur vorgedruckte Formblätter, die nicht mehr enthalten als
    "Herr Ernst D. war vom ... bis ... als Werkzeugmacher bei uns beschäftigt und ist heute ordnungsmäßig ausgetreten." Dann folgt meist noch was zu seiner Krankenversicherung.
    In den wenigen Zeugnissen dieser Jahre mit einer weitergehenden Aussage heißt es ganz schlicht
    "Mit seinen Leistungen und seiner Führung sind wir zufrieden gewesen und tritt derselbe heute auf eigenen Wunsch aus unseren Diensten" oder
    "Führung und Leistung gut, Austritt erfolgt wegen Schichtauflösung"


    Das ist alles andere als das, was wir heute als "qualifiziertes" Zeugnis bezeichnen würden.
    Großvater war ein sehr unruhiger Geist, der relativ oft seinen Job gewechselt hat. Egal wie das Zeugnis formuliert war, er hat fast immer sofort eine neue Arbeit bekommen (und so nach und nach auch "Karriere" gemacht).


    Ab 1929 sind die Zeugnisse etwas ausführlicher, vielleicht auch im Zusammenhang mit den mit immer mehr Verantwortung versehenen Aufgaben. Beispiele:
    "... Herrn D. waren die Abteilungen Werkzeugbau und Revolverdreherei unterstellt. Während der ganzen Zeit seiner Tätigkeit hatHerr D. seinen Posten zu unserer Zufriedenheit ausgefüllt und sich in jeder Beziehung einwandfrei geführt" [1929]
    "... Herr D. hatte die selbständige Leitung ... unter sich. Weiter unterlag ihm ... Herr D. die ihm innerhalb dieses Aufgabenkreises übertragenen Arbeiten zu unsrerer vollständigen Zufriedenheit ausgeführt und ein umfangreiches praktisches Wissen an den Tag gelegt. Herr D. war stets pünktlich und hat uns durch seine Leistungen sowohl als auch durch seine angenehme Umgangsart sehr befriedigt." [1934]
    "... Herr D. hat auf Grund seiner Fachkenntnisse die ihm übertragenen Arbeiten in allen Fällen zu unserer Zufriedenheit ausgeführt." [1944]
    Hier sind schon eher qualifizierte Aussagen gemacht worden, aber weit entfernt von dem heute üblichen "Geheimcode" - der längst keiner mehr ist.


    Aus persönlicher Erfahrung würde ich den Beginn von immer ausgefeilteren Formulierungen in die 1960/70er Jahre legen.
    Ab etwa 1980 - als ich für meine Mitarbeiter Zeugnisentwürfe an die Personalabteilung geben musste - hat sich das immer weiter entwickelt, ich habe meine Entwürfe oft kaum wiedererkannt. Immerhin haben die Personaler zurückgefragt, wie meine Formulierung denn "genau" zu verstehen, zu interpretieren sei.


    "Dein" Zeugnis von 1938 würde ich als der Zeit entsprechend und durchaus positiv bewerten.

    Freundliche Grüße
    Jörg


    Berlin und Umgebung: Mohr, Hartung, Zienicke, Krusnick, Grünack, Linto (vor 1750); Magdeburger Börde (rund um Egeln, etwa 1600 - 1800)
    Gera: Dix (vor 1740); Wunstorf: Brandes, Steinmann (vor 1800), Hildesheim: Michael (vor 1800); Gönningen (und Umgebung, vor 1650)

  • Hallo Ursula und Jörg,
    vielen Dank für eure Einschätzung. Dachte ich mir es doch, daß früher alles einfacher war. :D
    Es handelt sich dabei um eine Person aus meinem engeren Familienkreis (klar), die ich noch persönlich sehr gut kannte.
    Er hatte vorher Landwirtschaft studiert und 1934 seine Diplomprüfung mit der Durchschnittsnote "gut" bestanden. Ich denke das war in Zeiten lange vor dem heutigen Notenwahn ganz ordentllich.
    Allerdings ist natürlich Studium die eine Sache und nachher mit "richtigen Menschen" zusammenarbeiten eine ganz andere Sache.
    viele Grüße
    Gisela

    Ein Jegliches Ding hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde
    Derzeitige Lieblingsbaustellen: GRUNER u. LINCKE, Sachsen, ab 1849 auch Schweiz. WURMSER von Schaffoltzheim, Bormio, Schweiz, Elsaß, Heidelberg. STREICHER, Ulm, 16. Jhdt. (Schwenckfelder). WERNBORNER, Hessen u.a.