Tagelöhner als Bürger?

  • Hallo zusammen und ein gutes neues Jahr! Ich habe in einigen Traumatrikeln am Ende des 17. Jhdts. einen Zeugen gefunden, der als "civis et operarius" bezeichnet wurde. Das würde ich übersetzen als Bürger und Tagelöhner. Bisher bin ich davon ausgegangen, dass das Bürgerrecht nur eher "Gutbetuchte" erwerben konnten. In meinen Trauzeugen finde ich ansonsten Bierbrauer, Tuchmacher, Bäcker, Wirte, also genau die soziale Gruppe, die ich auch erwarten würde, und ein Tagelöhner gehört da nicht unbedingt dazu. Habe ich falsch übersetzt oder mit falschen Annahmen zum Bürgerrecht gearbeitet?


    Danke für Kommentare und schöne Grüße!


    Ulrich

  • Hallo Ulrich
    Jeder der die erforderliche Geldsumme zusammen bekam hatte konnte auch das Bürgerrecht erwerben ! Dadurch hatte er mehr Rechte aber auch Pflichten !
    Voraussetzung war aber ein guter Leumund !
    Gruß didirich

  • Genau das war eben mein Problem, weil ich das bei einem Tagelöhner eher bezweifelt hätte. Wenn ich mir Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%BCrgerrecht#Geschichte) ansehe, wird dort behauptet, dass bis zum Kaiserreich in vielen Städten weniger als 10 % der Einwohner das Bürgerrecht hatten. Das bedeutet aber, dass entweder die Einstiegsschwelle (sprich: der Preis) zu hoch war oder dass das Bürgerrecht nicht attraktiv genug war. Letzteres scheint mir aber keine belastbare Annahme zu sein, sonst würde nicht ständig in Matrikeln erwähnt, dass jemand das Bürgerrecht hatte. Bleibt also der hohe Preis als wirksame Einstiegsschwelle.


    Schöne Grüße - UDl

  • Hallo Ulrich,


    im Zusammenhang mit eigenen Forschungen in Berlin habe ich mich ein bisschen mit dem Thema befassst, "natürlich" nur für die (verwaltungsmäßig ziemlich eng zusammengehörenden) Städte Berlin und Cölln.


    Dort hing die Höhe des Bürgergeldes vom Einkommen/Vermögen ab, der Rat "schatzte" die Bewerber. So stehen im Bürgerbuch für 1588 ein Krämer (3 tlr Bürgergeld) und ein Tagelöhner (1½ tlr) direkt untereinander, ein weiterer Tagelöhner zahlt 2 tlr, ein Seiler 8 sg [Silbergroschen].
    Ein weiteres Beispiel von 1692: ein Bäcker zahlte 4 tlr 16 g, ein Tischler zahlte 1 tlr, ein Weißgerber und Bürgersohn zahlte 1 tlr 16 g - wie alle Bürgersöhne (die 16 g waren ein monetärer Ersatz für den ursprünglich neben dem Bürgergeld geforderten ledernen Feuereimer).
    Das Bürgergeld wurde im Einzelfall auch für längere Zeit gestundet oder in Raten bezahlt.


    In Berlin gab es während und nach dem 30jährigen Krieg Streit um die Höhe des Bürgergeldes, der Rat hatte es gegen 1620 deutlich erhöht. Auf Beschwerden von Bürgersöhnen hieß es "wer mehr von seinen Eltern geerbt habe als ein anderer, könne mehr geben und daher könnte auch der Rat 'nicht gleiche Bürgerrechte geben' [letzteres ist etwas kryptisch und bedeutet wohl, dass nicht alle Bürgersöhne das gleiche Bürgergeld zahlen müssen]" 1626 begründet der Rat die Erhöhung für Bürgersöhne kühl, sie könnten "ein Mehreres geben, weil zu Rathause sich die Ausgaben mehrten".
    Es gab in Berlin einen Zwang zur Gewinnung des Bürgerrechts (ich weiß nicht seit wann), der nach 1709 verschärft durchgesetzt wurde. Jeder der auch nur "die geringste bürgerliche Nahrung trieb" unterlag diesem Zwang.
    1715 taucht in Berlin plötzlich der 'Schutzverwandte' auf. Das sind Bürger minderen Rechts, die keine 'Profession' treiben und auch keiner Innung angehören durften. Sie zahlten deutlich weniger leisteten auch einen abgewandelten Eid. Hier finden sich dann eher Tagelöhner, Handwerksgesellen usw. Allerdings habe ich auch Handwerksmeister mit eigenem Betrieb und Innungsmitglied als Schutzverwandte gefunden. Von einem Fall weiß ich, dass ein Schutzverwandter, nachdem er die Witwe des Meisters geheiratet hat, das volle Bürgerrecht erworben hat (und das höhere Bürgergeld zahlt).


    Das Ganze hier hat nur wenig mit deiner ursprünglichen Frage zu tun, gibt aber vieleicht doch ein paar zusätzliche Informationen.
    Die Berliner Regeln sind nicht 1:1 auf andere Städte zu übertragen, starke Ähnlichkeiten würde ich zumindest für Preußen aber erwarten.


    Zahlen zum Verhältnis Einwohner zu Bürgern scheinen rar zu sein. Bei Kaeber habe ich eine interessante Aussage dazu gefunden:
    "Wohl in keiner preußischen Stadt hat sich im Laufe des 18. Jahrh.s das Verhältnis zwischen Einwohnerschaft und Bürgerschaft so stark von den herkömmlichen Bahnen entfernt wie Berlin." Das wird mit der starken Garnison in der Residenz begründet. 1805 nennt v. Clauswitz die Zahlen "Zivilbevölkerung 155 706 Köpfe, aber nur 12 862 Bürger"... "Eine so erschreckende Minorität war freilich dei Bürgerschaft nicht, wie es diese krasse Gegenüberstellung zu beweisen scheint. Da sie durchweg aus Verheirateten bestand, von denen die allermeisten mehrere Kinder hatten, wird man ... die im strengen Sinne bürgerliche Bevölkerung also auf etwa ein Drittel der Zivilbevölkerung schätzen dürfen. Zu ihr müssen aber noch die zu diesen Haushaltungen gehörenden Gesellen, Lehrlinge, und Dienstboten gerechnet werden, und dann kommt man schon auf über zwei Fünftel der Einwohnerschaft"


    Die Zitate in Gänsefüßchen stammen aus
    ◼︎ P. v. Gebhardt (Hrsg.), Das älteste Berliner Bürgerbuch 1453 - 1700, Berlin,1927
    ◼︎ E. Kaeber (Hrsg.), Die Bürgerbücher und Bürgerprotokollbücher Berlins von 1701 - 1750, Berlin, 1934

    Freundliche Grüße
    Jörg


    Berlin und Umgebung: Mohr, Hartung, Zienicke, Krusnick, Grünack, Linto (vor 1750); Magdeburger Börde (rund um Egeln, etwa 1600 - 1800)
    Gera: Dix (vor 1740); Wunstorf: Brandes, Steinmann (vor 1800), Hildesheim: Michael (vor 1800); Gönningen (und Umgebung, vor 1650)

  • Vielen Dank für die ausführliche Antwort, sehr interessant! Ich lerne daraus, dass man immer sehr vorsichtig sein muss bei den (stillschweigenden) Annahmen, mit denen man in der Familienforschung so hantiert. Meine Arbeit konzentriert sich auf Besitzer von Bauernhöfen in Niederbayern. Da ist es sowieso eine rare Ausnahme, wenn mal ein Bürger überhaupt als Taufpate oder Trauzeuge auftaucht und der gehört dann zu den Innungsberufen in den Marktflecken. Ein Tagelöhner als Bürger ist da schon eine auf den ersten Blick merkwürdige Erscheinung.


    Schöne Grüße - UDl

  • Hallo Ulrich,


    Deine Gedanken sind absolut nachvollziehbar. Allerdings: Durch eigene Beschäftigung mit dem früheren Bürgerrecht weiß ich, dass es sich alles in allem um ein ziemlich komplexes Thema handelt. Die Details sind überdies stark von den Regelungen der jeweiligen Stadt/Herrschaft abhängig. Folgendes sollte man m.E. nicht ganz außer Acht lassen:

    • Das Bürgerrecht konnte auch durch Geburt (als Kind eines Bürgers) erworben werden. Das Bürgergeld konnte in diesem Fall deutlich niedriger (und so ggf. auch für einen Arbeiter/Tagelöhner noch bezahlbar) sein, als das Bürgergeld, das bei Neuerwerb des Bürgerrechtes entrichtet werden musste. Hierzu ein Link zu einer interessanten Enzyklopädie von 1780: https://books.google.de/books?…=PA581#v=onepage&q&f=true
    • Stichwort Verarmung: Immerhin ist es ja nicht ausgeschlossen, dass der 'operarius' bereits einen sozialen Abstieg hinter sich hatte und ursprünglich einmal Handwerker war (und das Bürgerrecht zu diesen "besseren" Zeiten bereits inne hatte).

    Zum Begriff des 'operarius' noch was:


    Viele Grüße
    Uwe

    Forschungsschwerpunkte:
    Schönhengstgau: Raum Zwittau/Leitomischl +++ Ostpreußen: Raum Gerdauen, Raum Gumbinnen
    Baden-Württemberg: Raum Abtsgmünd, Raum Rottenburg/Neckar