Buchbesprechung: Defoe (1709), Kurze Geschichte der pfälzischen Flüchtlinge

  • Buchbesprechung:


    Daniel Defoe (1709), Kurze Geschichte der pfälzischen Flüchtlinge,
    Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2017


    Zwischen dem 1. Mai und 18. Juli 1709 treffen 10.000 pfälzische Flüchtlinge in England ein, die meisten davon Ackerbauern und Winzer, aber auch Steinmetze, Sattler, Färber, Ziegler, Hutmacher, Chirurgen – kaum ein Beruf, der nicht unter den Flüchtlingen anzutreffen ist. Sie stammen aus der Unterpfalz, also aus der Umgebung von Heidelberg, Mannheim, Frankenthal, Speyer, Worms und anderen Teilen der Unterpfalz entlang des Rheins. Was die „poor Palatines“, die „armen Pfälzer“, vertreibt, sind wirtschaftliche Not, religiöse Verfolgung und die nicht enden wollen Kriege: Zunächst der Holländische Krieg (1672 – 1678), dann der Pfälzische Erbfolgekrieg (1688 – 1697) und schließlich die Auswirkungen des Spanischen Erbfolgekriegs (1701 – 1714) bringen die Bewohner an ihre Belastungsgrenze. Hinzu kommen eine Missernte durch Hagelschlag 1707, eine Viehseuche und der strenge Winter 1708/09; die Vögel fielen vor Kälte erstarrt vom Himmel und der Wein gefror in den Fässern, wie zeitgenössische Chronisten zu berichten wissen.


    Fast die Hälfte der Bevölkerung war bereit, „ihr liebes Vatterland wiewohl zu ihrem großen Leidwesen zu verlaßen, wegen der unerschwinglichen angesezten Gelder, und Mangel der ohnentbahrlichen Leibsnotturfft“ (Gemeindearchiv Gau-Odernheim, aufbewahrt im Archiv der Verbandsgemeinde Alzey-Land, Abt. VI, Fasz. 1, Bericht vom 22.04.1709). Ein Ausweg wurde in der Werbeschrift des Pfarrers Josua Harrsch, 1704 unter dem Pseudonym Josua Kocherthal erstmals publiziert, aus Eschelbronn im Kraichgau geboten: Die Auswanderung nach England und von dort in die „berühmte Landschafft Carolina in dem Engelländischen America“. Tausende Pfälzer nutzten diese Gelegenheit; die ersten Auswanderer trafen im Frühjahr 1708 in London ein.


    In England fand ihre Ankunft nicht ungeteilte Zustimmung: Viele befürchteten eine Verteuerung der Lebensmittel und hatten Sorge, dass die vielen Flüchtlinge „unsere einheimischen Handwerker und Arbeitsleute brotlos machen“ könnten. In diese Debatte ist auch der Kaufmann, Schriftsteller, Essayist und Journalist Daniel Defoe (1660 – 1731) involviert: Am 11. August 1709, 10 Jahre bevor ihn sein Roman „Robinson Crusoe“ weltberühmt macht, erscheint bei John Baker seine „Kurze Geschichte der pfälzischen Flüchtlinge“ („A Brief History oft he Poor Palatine Refugees“), in der er sachlich und engagiert für eine unbegrenzte Aufnahme der pfälzischen Flüchtlinge argumentiert, da dies nicht nur eine „Christenpflicht“ sei, sondern dem Land auch wirtschaftlich nützen werde. Gestützt auf eigene Recherchen und Statistiken berichtet er über die Gründe der Auswanderung, die Herkunftsorte und genaue Anzahl der Geflüchteten, wo und wie sie untergebracht wurden und was mit ihnen geschehen soll.


    Auch wenn der Werbeaufkleber des Verlages mit dem Text „Weckruf aus einer anderen Zeit. VON ERSCHÜTTERNDER AKTUALITÄT“ etwas reißerisch klingt, trifft er doch ganz gut: Viele der Argumente, sowohl die Pros als auch die Contras, sind auch in der aktuellen Flüchtlingsdebatte zu hören. Und damit wird dieser über 300 Jahre alte Text nicht nur zu einem beeindruckenden Dokument über einen kleinen Aspekt der pfälzischen Geschichte und Familiengeschichtsforschung, sondern wirft die immer wiederkehrende, fundamentale Frage auf, wie wir in Europa, wie wir in Deutschland, mit Flüchtlingen umgehen sollen und wollen. Kein „Weckruf“ vielleicht, aber ein Text, der nachdenklich macht. Und wie meinte schon Mark Twain: „Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich“.


    Die „Kurze Geschichte der pfälzischen Flüchtlinge“ von Daniel Defoe ist 2017 mit einem Vorwort von John Robert Moore im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen.

    Forschungsgebiete:
    Bochum, östl. Teil von Ostwestfalen-Lippe (Kreise Lippe, Paderborn und Höxter), West- und Ostpreußen, Eichsfeld
    Häufigste Namen im Stammbaum:
    Hungerige und Varianten: Hungrige, Hungerge, Hungern, Hungridge ...

    Gröblinghoff, Crawinkel, Reisdorf, Döring, Haase, Reinecke, Micus, Berg, Galuske, Pudenz, Rechner (vor 1920: Grabowski), Bahr, Leyk, Spedowski

    Homepage:
    Genealogische Visitenkarte

    Genealogie von Heiko Hungerige bei GENEANET