• Hallo,


    weiß jemand, wie die Bezeichnung "Nachbar" in Kirchenbüchern im 19. Jh (Region Sachsen-Altenburg) zu verstehen ist?


    z.B. "...(Name), des Nachbars und Gärtners ... (Name) einzige Tochter"


    Ist das einfach im Sinne von "hier ansässig" zu verstehen, oder bezeichnet es evtl. einen Stand?


    Danke!
    Micha

  • Hallo Micha,


    beide Begriffe sind in Deinem Dokument nicht wie im heutigen Sinne verwendet worden. Der Nachbar (lateinisch: accola) war ein Nachbauer bzw. (Bey- oder) Beiwohner, also ein Bauer auf Pachtland. Und ein Gärtner war ein Kleinbauer auf sog. Gartenland.


    Gruß
    Detlef

  • Hallo,


    ich selbst kenne den Begriff aus der Region Halberstadt mit etwas anderer Bedeutung: danach war ein "Nachbar" ein Dorfbewohner mit "nachbarlichen Rechten" in dem Sinne, dass er u.a. das Recht hatte, die der Gemeinde gehörenden Gehölze und Weiden mit zu nutzen und aktiv an der Verwaltung und der dörflichen Gerichtsbarkeit zu partizipieren (also ein Dorfbewohner mit den vollen Rechten der Gemeindemitgliedschaft). Von der "Nachbarschaft" ausgeschlossen waren im Allgemeinen Tagelöhner und andere "Häusler" und "Einlieger", teilweise auch die Kothsassen (d.h. es gab Kothsassen mit und ohne Nachbarliche Rechte, abhängig vom bewohnten Grundstück und teils von Dorf zu Dorf anders geregelt) und die sogenannten "Anbauer" (also Bauern auf neu erschlossenem Grund und Boden).


    Grüße!


    Giacomo



    P.S.: ich selbst habe die Erfahrung gemacht, dass bei Kaufverträgen über Grund und Boden - sei es mit oder ohne zugehörigem Wohnhaus - die daran gebundenen "Nachbarlichen Rechte" häufig mit erwähnt und mit verkauft wurden; in einem Fall ist mir aber auch untergekommen, dass der Verkäufer sich selbst diese nachbarlichen Rechte für die Zeit bis zu seinem eigenen Ableben vorbehalten hat (diese Rechte sind also im konkreten Fall erst mit dem Ableben des Verkäufers an den Käufer übergegangen).

    IRGENDWIE sind wir doch ALLE miteinander verwandt... ;)

    Einmal editiert, zuletzt von Sbriglione ()

  • Hallo zusammen,


    was Giacomo beschreibt, gab es auch in unserer Kleinstadt im Münsterland. Die Stadt innerhalb der Befestigung war in vier Viertel geteilt, die den vier Nachbarschaften entsprachen. Jede Nachbarschaft hatte (wählte) einen Herr und einen Knecht. Heiratete jemand von einer Nachbarschaft in die andere, musste ein Abstand in Form von Geld gezahlt werden.


    In Lüdinghausen z. B. gab es drei Nachbarschaften und dementsprechend drei gewählte Bürgermeister (ich komme momentan nicht auf die korrekten Begriffe). Diese hatten unter anderem dafür zu sorgen, dass die Stadtbefestigung (in dem Fall Wälle und Gräben) in ihrer Nachbarschaft in Ordnung gehalten wurden, und organisierten im Falle einer Bedrohung die Verteidigung.

  • Hallo Simone,


    danke auch für diese Info - das ist zwar eine ganz andere Gegend, aber LH kenne ich ja nun auch ganz gut.
    Weisst Du, ob das, was Du beschreibst, auch noch für das 19.Jh galt?


    Viele Grüße,
    Micha

  • Hallo Micha,

    aber LH kenne ich ja nun auch ganz gut.
    Weisst Du, ob das, was Du beschreibst, auch noch für das 19.Jh galt?

    Zu Lüdinghausen musste ich nochmal nachlesen... Es ist schon länger her, dass ich mich intensiv damit befasst habe. Also, in der Stadt LH hießen die Nachbarschaften Leischaften. Diese wählten jährlich ihre Repräsentanten, die dann folgende Posten inhatten: erster Bürgermeister, zweiter Bürgermeister und Rentmeister. Diese städtische Verfassung galt mindestens bis 1806, also bis die Franzosen kamen, wenn ich mich nicht irre.

  • Auch in größeren Städten wie Münster gab es "Leischaften".
    Hier im Münsterland gibt es bis heute feste Bräuche bezüglich der Nachbarn. Der wichtigste unter den Nachbarn war der "gute Nachbar" oder auch "Notnachbar", der festgelegte Aufgaben hatte. Diesen Nachbarn konnte man unter den vorhandenen Nachbarn auswählen.
    Im Übrigen waren z.B. bei es uns in Merfeld die Nachbarn, die herumgehen und den Tod eines Nachbarn mitteilen und zum Gebet und zur Beerdigung einladen mussten. Üblicherweise trugen auch 6 Nachbarn den Sarg.
    In Bauerschaften waren die Nachbarinnen nötig, um einer werdenden Mutter zu helfen, nicht als Hebamme, sondern eher bei der Versorgung der Kinder und des Haushalts. Erhalten hat sich davon teilweise der "Kroamstuten", den die Nachbarn der jungen Mutter bringen. Heute nicht mehr ans Wochenbett, sondern eher nach ein paar Monaten.


    Ich gehe davon aus, dass es in vielen Teilen Deutschlands feste Regeln in Bezug auf die Nachbarn gab.

  • Simone, das ist jetzt natürlich alles sehr im Fluss, aber tatsächlich sind wir noch vor ca. 6 oder 7 Jahren gefragt worden, ob wir der "gute Nachbar" sein wollen - und das, obwohl wir zugezogen waren und anfangs sogar Ärger mit diesen Leuten hatten.
    Auch bei Beerdigungen wird es zunehmend schwierig, die Sargträger aus der Nachbarschaft zu bekommen, da manche zu alt sind, Rückenprobleme haben oder arbeiten müssen.
    Hier in Billerbeck wohnen wir in der Innenstadt und da gibt es wohl keine solchen Bräuche mehr. Man kennt sich, aber festgelegte Aufgaben gibt es nicht.

  • Rotraud,


    bei uns gibt es noch den Nachbarschaftsherr und den Knecht, die Geburtstagsbesuche abstatten, Geschenke besorgen und diverse nachbarschaftliche Aktivitäten - vom Grünkohlessen bis zum Sommerfest - organisieren, aber keinen "guten Nachbarn". Ich muss zugeben, dass ich dachte, es sei der 1. April, als ein Nachbar diese erstmalig erwähnte.


    Tatsächlich ist es auch immer noch so, dass zur Nachbarschaft nur die gehören, die Eigentum haben, jedoch - mit einer einzigen Ausnahme, soweit ich weiß - keine "Häusler" und "Einlieger" - sprich Mieter. Das empfinde ich auch als ein wenig seltsam.

  • Überraschend, wie groß die lokalen Unterschiede sind. Von Nachbarschaftsherr und Knecht habe ich nie gehört. Grünkohlessen scheint es hier eher in Vereinen zu geben.
    Dass Nachbarn praktisch nur wie früher "Bürger" und nicht "Einwohner" sein können, ist mir auch neu.