Bonn - viele verstorbene Kinder lediger Mütter

  • Guten Abend !


    Bei der verzweifelten Suche nach meiner Urgroßmutter, die als ledige Dienstmagd in Bonn 1906 und 1908 zwei Kinder geboren hat, habe ich begonnen die als Digitalsat einsehbaren Sterbeurkunden aus Bonn durchzusuchen. Sie könnte ja bei einer weiteren Geburt gestorben sein ... .


    Ich bin erst bei der 190sten Sterbeurkunde und habe schon ca. 10 Sterbeurkunden von Kleinkindern lediger Mütter gefunden, was ich sehr erschreckend finde. In sieben dieser Urkunden zeigte die Dienstmagd Barbara Grümmer, wohnhaft in der Dorotheenstraße 68, den Tod des Kindes an. Einige Kinder haben in der selben Adresse gewohnt, aber nicht alle. Die Mütter waren ledige Dienstmägde. Ganz unten steht immer: "Die Anzeigende erklärte, von diesem Sterbefalle ... einenen/r .... unterrichtet zu sein."

    Hier eine der Sterbeurkunden: https://dfg-viewer.de/show?tx_…fc2b23c2a48c21f3462b402f2


    Habt ihr eine Idee, wer Barbara Grümmer war und warum sie so viele gestorbene Kleinkinder lediger Dienstmägde meldete ? Beim weitersuchen fand ich ein Kindermädchen, was ebenfalls in der Dorotheenstraße 68 lebte und den Tod eines 11 Tage alten Kindes anzeigte ... und Barbara Grümmer zeigte den Tod einer ledigen Dienstmagd an.

    Was war in der Dorothenstraße 68 ?


    Ausserdem gibt es noch Franziskanerschwestern, die tote Kinder gemeldet haben. Mit dem selben Satz ganz unten.


    Auch der "Direktor der Königlichen Frauenklinik daselbst" meldet viele verstorbene Kinder, diese sind aber meist schon bei der Geburt verstorben oder Todgeburten und die Mütter sind unverehelichte Wäscherinnen, Fabrikarbeiterinnen ... .


    Als Wohnort der ledigen Mütter und Kinder sind oft entfernte Orte, z.B. Coblenz, Paderborn etc. angegeben, als Geburtsort der Kinder Bonn.


    War Bonn eine Stadt in der ledige Mütter ihre Kinder heimlich entbinden und "loswerden" konnten ?



    Es gab auch sehr viele eheliche verstorbene Kleinkinder, die Kindersterblichkeit scheint wirklich enorm gewesen zu sein !


    Ich bin ziemlich erschüttert ...

  • Es gab auch sehr viele eheliche verstorbene Kleinkinder, die Kindersterblichkeit scheint wirklich enorm gewesen zu sein !


    Ich bin ziemlich erschüttert ...

    Wenn man die Sterbeeinträge eines Amtes bis ca. 1900 bearbeitet, kommen auf einen normalen Sterbefall gefühlte 5 Kinder bis 10 Jahren. Das kann einen schon ganz nett mitnehmen, besonders wenn die eigenen Kinder oder Enkelkinder in diesem Alter sind. Nach 1900 "normalisiert" sich die Kindersterblichkeit langsam, wie ich meine.
    In Bonn war auf der Dorotheen Str 82 das Kath MAgdalenenstift. Vielleicht gabs da eine Verbindung?

    Gruß

  • Hallo,

    "Die Anzeigende erklärte, von diesem Sterbefalle ... einenen/r .... unterrichtet zu sein."

    falls du den Satz nicht ganz lesen kannst, er lautet nicht nur in Bonn oder im Rheinland:

    Der/Die Anzeigende erklärte, von diesem Sterbefalle aus eigener Wissenschaft unterrichtet zu sein.

    Was für dich bedeutet: Frau Grümmer hat das verstorbene Kind gesehen und weiß auch, wer das ist.

    Ich kenne die damalige Situation in Bonn nicht. Aber aus östlicher gelegenen Städten in Preußen kenne ich die gewerbsmäßige Vermietung von Schlafplätzen an jeden, der das zum Überleben brauchte. Oft waren das Arbeiter "aus der Ferne", Leute, die hofften in der Stadt ihr Glück zu machen, oder wenigstens etwas zum Leben der Familie in der Heimat beizutragen.

    D.h. Der Vermieter/die Vermieterin stellte ein Bett bereit - fertig. Wenn's denn etwas luxuriöser war, gab es vielleicht auch einen kleinen Schrank und eine Waschschüssel. Es gab auch Fälle, wo ein Bett mehrfach vermietet wurde, dann wurde in Schichten geschlafen ... Wer glaubt, dass da jedesmal die Bettwäsche gewechselt wurde, ist schlicht naiv. Situationen, die man sich nicht recht vorstellen mag, wohl mit unseren Erfahrungen auch nicht kann.


    Und es gab auch clevere Damen, die meist selber aus dem Umfeld der Dienstmägde kamen, die sich "liebevoll und Hilfe bietend" um die jungen Mädchen vom Lande kümmerten, die in großen Zahlen in die Städte kamen und meist ahnungs- und hilflos bei Vermittlungsstellen landeten (sowas wie heute das Arbeitsamt, aber private Unternehmen, die auf ihren eigenen Gewinn achteten). Dort würde ich auch Barbara Grümmer vermuten. Sie bot den Mädchen ein überdachtes Plätzchen an, dass die sich leisten konnten.

    Durchaus möglich ist aber auch, dass Barbara Grümmer sich auf schwangere Mädchen "spezialisiert" hatte und ihnen einen diskreten Platz für die Geburt und die erste Zeit danach bot. Mund-zu-Mund-Empfehlung unter den Mädchen in den Orten weiträumig um Bonn sicherte das Geschäft. Häufig wurden diese Kinder sofort nach der Geburt zur Adoption freigegeben (meine Schwiegermutter ist so ein Fall, sie hatte unfassbares Glück mit ihren Adoptiveltern).


    Das klingt alles ziemlich schrecklich, war es auch tatsächlich - aber es war die Realität. Gerade die Dienstmädchen wurden ohne Ende ausgebeutet. Sie hatten ein extrem schwieriges und auch gefährliches Leben. Da viele unter oft unsäglichen Bedingungen im Haushalt der "Herrschaft" lebten, waren sie auch den möglichen Attacken des Hausherrn ausgesetzt. Und wenn sich dann etwas entwickelte, flog das Dienstmädchen 'raus und ... auch sie landete bei Barbara Grümmer und ihren Geschäftskolleginnen.

    Freundliche Grüße
    Jörg


    Berlin und Umgebung: Mohr, Hartung, Zienicke, Krusnick, Grünack, Linto (vor 1750); Magdeburger Börde (rund um Egeln, etwa 1600 - 1800)
    Gera: Dix (vor 1740); Wunstorf: Brandes, Steinmann (vor 1800), Hildesheim: Michael (vor 1800); Gönningen (und Umgebung, vor 1650)

  • Hallo,


    man sollte sich die vorgelegten Informationen komplett durchlesen, bevor man antwortet. Das habe ich diesmal nicht gemacht:(, die StA-Urkunde habe ich mir erst jetzt genauer angesehen und mich dann wenigstens noch zu einer weiteren durchgeblättert.

    Das was ich vorhin zum Themenkreis Schlafplatz und Dienstmädchen geschrieben habe ist nicht falsch, sollte jeder im Hinterkopf haben, der in diesem Umfeld forscht. Aber ...

    Die beiden Urkunden, die ich jetzt genauer ansehen habe, zeigen außer der Anzeige durch Barbara Grümmer zwei andere Gemeinsamkeiten: beide Kinder sind in Cöln-Lindenthal geboren und in Bonn, Im Krausfeld 15 gestorben. Beide leben außerhalb Bonn und sterben dort?
    Also müsste die Frage eher sein: was war Im Krausfeld 15? War da eine Einrichtung, für die Barbara Grümmer gearbeitet hat? Vielleicht war sie doch nicht die clevere Geschäftsfrau, als die ich sie vorhin noch sah ... ;)

    Freundliche Grüße
    Jörg


    Berlin und Umgebung: Mohr, Hartung, Zienicke, Krusnick, Grünack, Linto (vor 1750); Magdeburger Börde (rund um Egeln, etwa 1600 - 1800)
    Gera: Dix (vor 1740); Wunstorf: Brandes, Steinmann (vor 1800), Hildesheim: Michael (vor 1800); Gönningen (und Umgebung, vor 1650)

  • Mir ist bei der Bearbeitung von Standesamtsnachrichten im späten 19.Jahrhundert aufgefallen, dass selbst im kleinstädtischen Raum uneheliche Kinder schlechtere Lebensaussichten hatten und häufiger früh starben als eheliche Kinder, obwohl die Kindersterblichkeit ja insgesamt sehr hoch war. Es gab ja keinen Mutterschutz, ledige Frauen wie waren gezwungen, sehr früh nach der Geburt wieder zu arbeiten. An regelmäßiges Stillen war meist nicht zu denken, Ersatznahrung problematisch. Neugeborene mussten oft in Pflege gegeben werden - oft mit der Folge, dass sie wegen unzureichender Pflege oder Verdauungsstörungen (Durchfall kann leicht zum Tode führen) starben. In größeren Städten mag es gewerbsmäßige Pflegestellen gegeben haben, wo Kinder nicht selten früh starben.

  • Hallo Jörg,

    danke für die Lesehilfe und die Erklärung des Textes, den ich tatsächlich nicht ganz lesen konnte. Bzw, ich habe nicht geglaubt, das da tätsächlich "Wissenschaft" steht ... .

    Und mit Krausfeld 15 hast du recht. Das war mir so spät nachts nicht aufgefallen.



    Ich habe noch etwas im Netz gekramt und dieses herausgefunden :


    Wie Sanaleikki schrieb, gab es in der Dorotheenstraße das "Katholische Magdalenen-Stift ( für gefallene Mädchen )" . Im Adressbuch von 1904 und 1906 noch in der Hausnummer 82 , in dem von 1913 / 14 dann in der Nr. 68. Dort steht weiter: " Mit der Anstalt ist ein neuerbautes, der Neuzeit entsprechend hygienisch eingerichtetes Säuglingsheim verbunden." Das ist das Haus Im Krausfeld 15, "(*Magdalenenstift) Säuglingsheim".

    1906 war dort noch Neubaugebiet, das steht so im Adressbuch.

    Anhand der Sterbeurkunden kann man ersehen, daß irgendwann zwischen Januar und Juli 1910 das neue Säuglingsheim in Betrieb genommen wurde. Den Zeitraum habe ich nicht mehr genau durchsucht und eine Sterbeurkunde meiner Urgroßmutter auch noch nicht gefunden ( sie war 1909 Dienstmädchen in Koblenz, wie ich aus der Sterbeurkunde ihres zweiten Sohnes, der ( wie zuerst auch mein Großvater, in Koblenz bei Pflegeltern lebte .)

    Ich habe auch Sterbeurkunden gefunden in denen die ledige Mutter selber den Tod des Kindes anzeigt, sie hat dann mit ihrem Kind im Magdalenen-Stift gewohnt.

    Allerdings weiß ich immer noch nicht, warum sie meisten Kinder mit einem anderen Wohnort eingetragen sind. Vielleicht ist das der Herkunftsort der Mutter ?

    Es sind teilweise weit entfernte Orte und Bonn scheint wohl tatsächlich ein Ort gewesen zu sein, an dem ledige Mütter "heimlich" ihre Kinder bekommen konnten. Aber vielleicht war das in anderen grösseren Städten mit einer Frauenklinik ja auch so.


    Laut Adressbuch gab es einige städtische und karitative Einrichtungen und Vereine, die sich um Arme und gefallene Mädchen kümmerten.


    Die Franziskanerinnen aus der Maargasse 16, die auch ledigen Mütter halfen sind diese :

    Die "Franziskanerinnen aus dem Mutterhaus in Aachen" betrieben dort ein "Haus für die Pflege von Armen und Kranken" .


    Nur die "Königliche Frauenklinik" bzw. "Geburtshülfliche Klinik" taucht nicht unter diesem Namen im Adressbuch auf. Vielleicht ist ( war ) es die Frauenklinik in der Theaterstrasse ? - ( Wikipedia sagt ja ! )

    [ Achtung böse Spekulation: Weihnachten 1909 trat dort eine Häufung von Totgeburten auf ... , hatten sie nicht genug Säuglingsschwestern ? Oder haben sich begüterte Damen ein Kind zu Weihnachten gewünscht ? ]



    Wer weiter mitforschen will , hier sind Urkunden, Auszüge aus dem Adressbuch usw:

    https://photos.app.goo.gl/A25hdwqwk8dCDwrp9


    Und noch etwas interessantes: gegenüber dem Haus Im Krausfeld 15 ist heute das Frauenmuseum Bonn !



    Viele Grüsse, Susanne

  • Hallo Susanne,


    so langsam scheint sich das ja aufzuklären :)


    Und ich muss bei Barbara Grümmer um Verzeihung bitten - schließlich war sie offenbar im Auftrag ihres Arbeitgebers, des Katholischen Magdalenenstifts, beim Standesamt zur Anzeige der Todesfälle.

    Wäre interessant zu wissen, ob sie auch Geburten beim StA angezeigt hat.

    Freundliche Grüße
    Jörg


    Berlin und Umgebung: Mohr, Hartung, Zienicke, Krusnick, Grünack, Linto (vor 1750); Magdeburger Börde (rund um Egeln, etwa 1600 - 1800)
    Gera: Dix (vor 1740); Wunstorf: Brandes, Steinmann (vor 1800), Hildesheim: Michael (vor 1800); Gönningen (und Umgebung, vor 1650)

  • Da müssen wir wohl warten bis auch die Geburtsurkunden digitalisiert und online sind ;)


    Aber trotzdem möchte ich gerne noch mehr über ledige Dienstmädchen und ihre Kinder wissen.

  • Hallo zusammen,

    ich bin Bonnerin und weiß aus verschiedenen eigenen Urkunden und einer Kollegin vom Standesamt, dass die "Geburtshülfliche Klinik" dort stand, wo heute die Beethovenhalle steht.

    Bei verschiedenen Führungen in Bonn - als es Corona noch nicht gab - habe ich erfahren, dass es an der Weberstraße/ Ecke Bonner Talweg ein Heim für ledige Mütter gegeben, genannt "die Wickelburg". Gegründet wurde sie von Bertha Lungstras. Heute ist dort ein Sparkassen-Neubau.


    Liebe Grüße

    Helga57

  • Hallo Helga !


    Vielen Dank für deine Information, in dem Auszug aus dem alten Stadtplan kann man das auch erkennen. Huch - hinter den Kliniken gab es eine Strasse mit Namen "Wachsbleicherweg" =O . Gibt es heute auch noch: Wachsbleiche.


    Über Berta Lungstraß und die "Wickelburg" habe ich einen Artikel bei Wic....dia gefunden. Sie lebte von 1836 - 1904. Leider steht im Artikel nicht, wie lange ihr Heim für "gefallene Mädchen" bestand.

    Zitat

    Berta Lungstras arbeitete zunächst einige Jahre in der Alten- und Armenpflege. Im September 1873 gründete sie mithilfe von Spenden engagierter Bonner Frauen ein Heim für „gefallene Mädchen“ in der Maxstraße in Bonn. Dies war ein Versorgungshaus für Mütter mit unehelichen Kindern, die ausgestoßen waren und auf die schiefe Bahn zu geraten drohten. Diese Einrichtung war zur damaligen Zeit ein Skandal. Einige Jahre danach errichtete sie ein Kinderhaus (Wickelburg) und ein Heim für alkoholkranke Frauen in der Weberstraße in Bonn.


    Im Adressbuch von 1904 findet man ein "Versorgungshaus" in der Weberstr. 67, 69 ( das ist wohl die "Wickelburg") und die "Heimstätte, ( Heilanstalt für weibl. Alkohol-Kranke )" schräg gegenüber.

    Der Deutsch-evangl. Frauenbund Ortsgruppe Bonn hielt in der Weberstr, 67 "jeden ersten Mittwoch im Monat, nachm. 4 1/2 Uhr " ihre Vorstandsitzung ab ( Adressbuch 1904, S. 70 ).


    Laut Adressbuch von 1913 / 14 existierte beides noch, nur der Deutsch evang. Frauenbund hielt seine Sitzung woanders ab ... .


    1926 gibt es das Versorgungshaus noch und es wird betrieben von der Bertha-Lungstras-Stiftung ( Quelle: Adressbuch Bonn 1926 ).


    1936 steht im Adressbuch: "Verein für Waisenpflege. Die Waisenkinder sind untergebracht im Bertha-Lungstras-Stift, Weberstr. 67/69 " und es ist im Besitz und Verwaltung der Enangelichen Gemeinde Bonn.


    Und auch 1949 existiert die Bertha-Lungstras-Stiftung noch an selber Stelle.


    1965 konnte ich sie nicht mehr finden.



    Für die Suche nach meiner Urgroßmutter ist das wohl irrelevant, da sie katholisch war ;) .